Art. 746. Die Bestimmung dieses Artikels hat ihren Grund darin, dass die Lebensversicherung nicht blos auf Entschädigung für Gefahren, sondern wesentlich auf Erreichung von Sparzwecken nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit gerichtet ist, der Vertrag mithin hier weit mehr als bei der gewöhnlichen Schadensversicherung ein wirklicher Creditvertrag ist, was sich auch darin kundgibt, dass die Versicherungssumme beliebig hoch gegriffen werden kann. Bei einem Creditvertrag ist des Schuldners Verpflichtung, den empfangenen Werth an den Gläubiger zurückzuzahlen und in der Zwischenzeit diesem Zinsen zu entrichten, das regelmässige, nur dass die Zurückzahlung nach dem Willen der Parteien irgendwie näher bestimmt wird. Bei der Lebensversicherung findet eine Rückzahlung im eigentlichen Sinne nicht statt: sie wird ersetzt durch die Auszahlung der Versicherungssumme, wenn diese fällig geworden ist. Die Versicherungssumme ist im Grunde nichts weiter als der Gesammtbetrag der von dem Versicherten entrichteten Prämien, vermehrt durch die angelaufenen Zinsen und Zinseszinsen und weiterhin entweder vermehrt oder vermindert durch den früheren oder späteren Eintritt des die Wahrscheinlichkeit bedingenden Umstandes. Gesetzt ein Beitrag betrüge 1000 D. vermehrt durch Zinsen und Zinseszinsen nach 30 Jahren auf 3000 D.; die Versicherungssumme ist 3000 D. Wenn nun der Versicherte schon im ersten Jahre stirbt, sind doch 3000 D. auszuzahlen, obgleich für ihn erst ein Betrag von 1000 D. und etwa 50 D. Zinsen vorliegt; stirbt er aber erst nach 40 Jahren, dann bekommt er auch nicht mehr als die Versicherungssumme, obgleich seine Einlage mit Zinsen etc. sich bis dahin auf vielleicht 4000 D. vermehrt hat.
Die Lebensversicherung ist also eine Capitalanlage, welche man nach dem Ablauf einer gewissen Zeit durch Wahrscheinlichkeitsberechnung sicher auf einen gewissen Betrag zu erhöhen hofft, wobei man aber die Chance des Verlustes gerne in den Kauf nimmt, da dieser Verlust nur durch ausnahmsweise langes Leben bewirkt werden kann. Daraus folgt zwar, dass wenn der Vertrag bestehen bleibt, der Versicherte auch die ungünstige Chance gegen sich gelten lassen muss, aber nicht auch, dass wenn der Vertrag nicht bestehen bleibt, der Versicherte alles verlieren und der Versicherer den ganzen an ihn bereits entrichteten Betrag gewinnen soll. Vielmehr geht die Praxis aller Gesellschaften dahin, dass, wenn die Versicherung ungültig wird, der Versicherte wie ein gewöhnlicher Creditgläubiger betrachtet wird, der wenigstens einen Theil seines Guthabens wieder zurückfordern kann. Der Entwurf bestimmt nun, dass ihm soviel zurückzugeben ist, als durch Vertrag vereinbart wurde. Dies ist meist in den Statuten des näheren geregelt, sogar in der Weise, dass sich die Gesellschaft verpflichtet, die Police nach dem Willen des Inhabers zu einem gewissen Betrage zurückzukaufen; eventuell soll wenigstens die Hälfte des dem Versicherten zukommenden Guthabens zurückgegeben werden, d. h. die Hälfte der Summe, die für den Versicherten mittelst seiner Einlagen angesammelt und durch Verzinsung vermehrt wurde. Gesetzt Jemand hätte 3 Jahresprämien a 1000 D. bezahlt, im Ganzen 3000 D., hiezu Zinsen in drei Jahren a 7 perc. 420. D., mit Zinseszinsen etwa 434 D., im Ganzen ungefähr 3434 D. Diese Summe bildet den Reservebetrag des Versicherten, und sie gehört ihm, da er im Grunde Creditgläubiger auf diesen Betrag ist. Der Entwurf verlangt nun, dass ihm wenigstens die Hälfte dieses Reservebetrages zurüekzugeben ist. Die ganze Summe kann ihm nicht zurückgegeben werden, da der Versicherer sie nöthig hat, um in anderen Fällen, wo die Wahrscheinlichkeit gegen ihn ausgeschlagen ist, eine Compensation zu finden; denn wie könnte der Versicherer z. B. einer Person für eine Einlage von 1000 D. schon im ersten Jahre vielleicht 6000 D. auszahlen, wenn nicht die anderen Versicherten die Chancen gegen sich hätten. Diesen Chancen muss auch der Austretende oder dessen Vertrag sonst ungültig ist oder wird, unterworfen bleiben, da sonst überhaupt keine Versicherung möglich wäre, und es erscheint am gerechtesten, die Chanccn zwischen dem Versicherten und der Gesellschaft gleichmässig zu theilen, also dem ersteren die Hälfte seines Guthabens zuzutheilen, und die andere Hälfte der Gesellschaft im Interesse aller übrigen Versicherten zu lassen. Denn die Lebensversicherung ist nicht für Einzelne, sondern nur für eine grössere Zahl von Menschen zusammen möglich, und deren Beiträge müssen als ein einheitliches Capital angesehen werden, das alljährlich durch die zur Auszahlung gelangenden Versicherungssummen erschöpft wird. Zeitschrift für H. R. Bd. 22 p. 454 ff. Die ganze Reserve kann nicht zurückgezahlt werden, da ein Theil derselben zur Ergänzung der fällig werdenden Versicherungssummen nöthig wird. In manchen Versicherungsstatuten (s. z. B. ib. p. 497. 500) wird der Vertrag als unanfechtbar erklärt, mithin die ganze Versicherungssumme zugesagt, wenn der Vertrag mindestens einige Jahre etwa 3 Jahre gelaufen hat. Dazu kann sich eine Gesellschaft freiwillig herbeilassen, wenn es auf Grund richtiger Berechnungen geschieht, es kann aber vom Gesetz nicht auferlegt werden.
Die Höhe der dem Versicherten gebührenden Abfindung wird in der Regel mit der Höhe der Reserven steigen, weil je länger Jemand schon versichert ist, er desto näher dem Verfall der Versicherungssumme kommt, welche immer mehr als den ganzen Reservebetrag eines Versicherten ausmacht. Zeitschr. für H. R. Bd. 20 p. 368. Von einer Deutschen Gesellschaft wird nach einer dort gegebenen Mittheilung z. B. die Hälfte der Reserve entrichtet, so lange diese nicht mehr als 10 perc. der Versicherungssumme beträgt, dagegen die volle Reserve, wenn, nach sehr langer Dauer der Versicherung, dieslbe 80 percent der Versicherungssumme erreicht hat. Das Detail dieser Berechnungen muss dem Vertrage und der Versicherungs — Statuten überlassen bleiben.
Dieser Punkt ist bei der gewöhnlichen Schadensversicherung in Art. 719 anders geordnet. Allein die dort vorgeschriebene Regel ist auf die Lebensversicherung nicht wohl anwendbar, einmal weil diese sich nicht von Jahr zu Jahr erneuert, sondern als einheitlicher Contract für die ganze Versicherungsdauer läuft, und sodann weil hier ein verhältnissmässiges Laufen der Gefahr und folglich eine Theilung der Prämie nicht leicht vorkommen kann. Auch ist hier die Rückerstattung nur ausgeschlossen durch Betrug oder Verletzung des guten Glaubens auf Seiten des Versicherten, nicht schon durch anderweitiges Verschulden desselben, z. B. Nachlässigkeit und Sorglosigkeit, da hier von einer Schadensgefahr, die durch Sorgfalt abgewendet werden könnte, nicht wohl die Rede sein kann. Der Anspruch geht hier nicht verloren, wenn z. B. der Versicherte sich durch nachlässiges Verhalten krank macht und die Zuziehung eines Arztes unterlässt, während bei der Feuerversicherung Unterlassung jeglicher Rettung leicht den Verlust des Anspruches nach sich ziehen kann, wenn Rettung möglich gewesen wäre.
Die Bestimmung dieses Artikels bezieht sich nicht blos auf die in Art. 745 bezeichneten besonderen, sondern auf alle Fälle der Ungültigkeit des Lebensversicherungsvertrages, z. B. durch Rücktritt, Nichtzahlung der Prämie, unrichtige Angaben, Nichteintritt der Gefahr u. s. w.